12.09.2019

 

Lokal trifft digital

Wie Bildungsorte zu Ankerpunkten in den Regionen werden

 

Wenn wir weltweit, zu jeder Zeit und zu jeder Frage auf Informationen zugreifen können, wozu brauchen wir dann noch Bildungsangebote vor Ort? „Weil der Mensch in einem analogen Körper lebt, weil das Bedürfnis nach persönlicher Begegnung nicht durch digitale Medien befriedigt wird und weil immer im physischen Raum gelernt wird, auch wenn wir mit Medien lernen“, sagt Richard Stang, Professor für Medienwissenschaft an der Hochschule der Medien Stuttgart. Es ist der 10. Mai 2019 und Stang spricht als Referent beim zweiten Spitzengespräch zum Kommunalen Bildungsmanagement der Transferagentur Brandenburg. Dezernent/innen und Amtsleiter/innen aus fast allen Brandenburger Landkreisen und kreisfreien Städten diskutieren engagiert mit. „Wir beobachten in den letzten Jahren, dass die Nutzerzahlen in öffentlichen Bibliotheken fast überall steigen,“ führt Stang aus, „insbesondere dann, wenn eine Bibliothek in Verbindung mit anderen Einrichtungen wie einer Volkshochschule oder einem Kulturzentrum zu einem zentralen Bildungs- und Begegnungsort ausgebaut wurde.“

 

In vielen Ländern Europas sind in den vergangen Jahren aus Bibliotheken neue Bildungsorte entstanden, die verschiedene Konzepte vereinen. Professor Stang zeigt in seinem Impuls Bilder aus Deutschland, Dänemark, den Niederlanden und Großbritannien. Kreative, offene und flexible Raumgestaltung, eine farbenfrohe Architektur prägen den Eindruck. Auffallend ist überall die zum Verweilen einladende Atmosphäre. Hinzu kommen Räume zum individuellen wie zum gemeinsamen Arbeiten. „Kaum eine kommunale Einrichtung erreicht so gut alle Bevölkerungsgruppen wie eine Bibliothek“, stellt Stang fest. „Viele ältere Menschen lesen ihre Zeitung lieber in einem Lesesaal oder Café, auch wenn sie dort alleine sitzen. Jugendliche chatten und spielen lieber in Gesellschaft, auch wenn jeder an seinem eigenen Gerät hängt.“

 

„Im ländlichen Raum funktioniert das genauso gut“, betont Professor Stang. „Die Formate sind andere, aber die Idee ist dieselbe wie in einer Stadt: Die Kommune schafft einen Ort, an dem sie verschiedene Angebote für Bildung, Kultur und Engagement bündelt. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung dieser Orte in Kooperation mit den lokalen Bildungsakteuren stattfindet.“

 

Paradoxien der digitalen Gesellschaft

Seinen Impuls beim Spitzengespräch der Transferagentur Brandenburg beginnt Professor Stang mit den „Paradoxien der digitalen Gesellschaft“. Er steht dabei im barocken Gartensaal des Schlosses Neuhardenberg im Osten Brandenburgs. In diesem Schloss, das der preußische Staatskanzler und Verwaltungsreformer Karl August Fürst von Hardenberg im Jahr 1814 von König Friedrich Wilhelm III. geschenkt bekam, in dem sich der Widerstand um Graf von Stauffenberg im Sommer 1944 vor dem Hitler-Attentat mehrfach traf, in diesem Schloss, das zu DDR-Zeiten als Schule und Turnhalle genutzt wurde, wird die Frage der „Ortsparadoxie“ – wie Stang sie nennt – direkt spürbar: Die digitale Gesellschaft orientiert sich global. Gleichzeitig gewinnt das Lokale und Regionale an Bedeutung. Vor Ort entsteht Identität. Hier wird sie mit Leben gefüllt.

 

Stang erläutert im Weiteren, was er unter „Anspruchsparadoxie“ und „Inklusionsparadoxie“ versteht: Zwar werden gleiche Chancen für alle proklamiert, doch in der Realität findet meist eine Konzentration auf bildungsnahe Zielgruppen statt. Zwar wird der Zugang zu Informationen immer leichter, doch gleichzeitig findet ein zunehmender Ausschluss weniger gebildeter Gruppen statt. Dass es auch anders geht, beweisen die „Idea stores“ in London, die mit ihren Bildungsangeboten in sozial schwachen Bezirken große Veränderungen bewirkt haben.

 

Der Dreh- und Angelpunkt jedoch ist für Stang immer wieder die „Raumparadoxie“: Parallel zur immer intensiveren Nutzung digitaler Medien und zur zunehmenden Virtualisierung der Kommunikation steigt die Bedeutung physischer Erlebnis- und Lernräume für die Menschen. Hier liegt für Stang ein Schlüssel für die Regionalentwicklung: „Die Chance und Notwendigkeit für Kommunen besteht darin, über Raumangebote vor Ort Ankerpunkte für alle Teile der Bevölkerung zu schaffen.“ In der Fachwelt hat sich der Begriff „Dritte Orte“ dafür etabliert. Die Bezeichnung geht zurück auf den amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg, der mit „Dritten Orten“ öffentliche Orte für Begegnung und Austausch in Ergänzung zum Ersten Ort, dem Zuhause, und dem Zweiten Ort, der Arbeit, benennt. Das Land Nordrhein-Westfalen hat Anfang 2019 ein Förderprogramm zum Ausbau von „Dritten Orten“ im ländlichen Raum ausgeschrieben und fördert derzeit 17 Projekte. Diese zeichnen sich beispielsweise durch einen niederschwelligen Zugang aus, durch die Bündelung verschiedener Nutzungen sowie die Entwicklung entlang eines partizipativen Prozesses, der auch die späteren Nutzer/innen einbindet. So können diese „Dritten Orte“ – mit den Worten Oldenburgs – zu einem „home away from home“ werden.

 

Was heißt das für Brandenburg?

In Regionen, die durch Strukturwandel und jahrzehntelange Abwanderung geprägt sind, bieten innovative Angebote, welche die digitale, weltweite Vernetzung mit einzigartigen lokalen Räumen verknüpfen, eine große Chance. Sie sind Bleibefaktoren für die Menschen vor Ort und Zuzugsargumente, die die Attraktivität der Lebens- und Wirtschaftsräume zeigen. In Städten wie auf dem Land lassen sich offene Begegnungsorte, die sich an alle Bevölkerungsgruppen richten, mit Bildungseinrichtungen wie Kitas, Schulen, Volkshochschulen oder Bibliotheken verknüpfen. Die Erfahrung vieler Kommunen zeigt, dass gerade in sozial schwierigen Kontexten damit auch die Teilnahme an Bildungsangeboten deutlich erhöht werden kann.

 

Wie sehen innovative „Dritte Orte“ aus?

Die Kreisstadt Unna am Rande des Ruhrgebiets hat vor 15 Jahren ihre städtische Bibliothek, ihre Volkshochschule, ihr Kulturamt und ihr Stadtarchiv zum „Zentrum für Information und Bildung“ (zib) an einem Ort zusammengeführt. Aus einer alten Brauerei wurde ein integrierter kommunaler Bildungs- und Lernort, der heute neben Bibliothek und Volkshochschule einen Medien-Kunst-Raum, ein Selbstlernzentrum, einen Veranstaltungsbereich, Ateliers und Gastronomie umfasst. Die Leiterin des zib, Rita Weißenberg, stellt beim Spitzengespräch der Transferagentur Brandenburg im Schloss Neuhardenberg fest: „Unser Zentrum hat eine enorme Anziehungskraft auch über die Grenzen der Stadt hinweg entwickelt. Doch wir sehen uns nicht in Konkurrenz zu anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen. Wir kooperieren mit ihnen.“

 

Was können Kommunen tun?

„Entwicklungsprozesse für Dritte Orte brauchen Steuerung und Koordination“, sagt Professor Stang. „Wer, wenn nicht die Kommune, sollte diese Rolle übernehmen?“ Kommunen sind als Gestalter ihrer Bildungslandschaften gefragt und das kommunale Bildungsmanagement bietet Unterstützung für die Umsetzung. Eine zentrale Leistung des kommunalen Bildungsmanagements ist – neben der Bereitstellung von Daten und Fakten – die Koordination von Steuerungs- und Beteiligungsprozessen. Die Entwicklung eines „Dritten Ortes“ kann gut mit den Mitteln des kommunalen Bildungsmanagements vorangebracht werden. Die Kommune profiliert sich dabei als Initiator für die Weiterentwicklung der lokalen Bildungslandschaft. Idealerweise werden alle relevanten Akteure innerhalb wie außerhalb der Kommunalverwaltung einbezogen.

 

Die Transferagentur Brandenburg berät und begleitet Kommunen in solchen Prozessen und wird das Thema der integrierten Bildungsorte immer wieder aufgreifen.