02.02.2021

 

Den Folgen der Pandemie begegnen

Wie ungleiche Bildungschancen entstehen und wie man ihnen entgegenwirken kann

 

In Folge der Schließung von Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen wird das Thema der gleichen bzw. ungleichen Bildungschancen immer virulenter. In den kommenden Monaten und Jahren wird man den Folgen der Pandemie nur entgegenwirken können, wenn Akteure aus Bund, Land und Kommunen, ebenso wie Bildungseinrichtungen und deren soziale Umfelder gut miteinander kooperieren.

 

Die Transferagentur Brandenburg hat am 30. Oktober 2020 mit ihrem 4. Spitzengespräch zum kommunalen Bildungsmanagement im Schloss Neuhardenberg das Thema Chancengerechtigkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Prof. Dr. Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation – und Sprecher der Autorengruppe des nationalen Bildungsberichts für Deutschlands, stellte neue Erkenntnisse aus der Forschung vor. Als Leiter einer Expert*innenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung verkündete Prof. Maaz unlängst Vorschläge zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit während der Pandemie (siehe „Weiterlesen“).

 

Anja Simon, Leiterin des Fachbereichs Volkshochschule und Bildungsbüro im Landkreis Darmstadt-Dieburg, präsentierte, wie ihre Kommune das Thema Bildung und Chancengleichheit zum Schwerpunkt des Bildungsmanagements gemacht hat. Die am Spitzengespräch teilnehmenden Vertreter*innen der Brandenburger Kommunen diskutierten mit den Referent*innen sowie mit Vertreter*innen des Bundes und des Landes, welche Handlungsoptionen die kommunale Ebene bei der Bewältigung von Bildungsungleichheiten hat.

 

Prof. Maaz beleuchtete in seinem Impuls, was die Wissenschaft meint, wenn von Chancenungleichheit die Rede ist. Die Hintergründe von Bildungsungleichheit seien gut erforscht, so Maaz. Mit Bildungsungleichheit ist in erster Linie die Kopplung von zwei Merkmalen gemeint: Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg, welcher sich wiederum in Form von Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb bei jungen Menschen ausdrückt. Genau zu unterscheiden sind zwei Herkunftseffekte, die sich auf den Bildungserfolg auswirken und welche im Zuge der Auslotung von kommunalen Handlungsspielräumen beim Spitzengespräch diskutiert wurden.

 

Familie und frühkindliche Bildung

Der primäre Herkunftseffekt bezeichnet die unterschiedlichen Chancen von jungen Menschen, sich in ihren Familien zu entwickeln. Dabei spielen die vorhandenen materiell-technischen, ökonomischen oder sozial-kulturellen Ressourcen der Familie eine entscheidende Rolle: Die jungen Menschen erfahren durch ihre Herkunftsfamilien eine bestimmte Förderung, die sich wiederum auf die Leistungsfähigkeit, auf die Wahl der Schulform sowie schlussendlich dem erworbenen Schulabgangszertifikat auswirken.

 

Diese unterschiedlichen sozialen Startvoraussetzungen ein Stück weit auszugleichen, kann eine Möglichkeit für die Herstellung von mehr Bildungsgerechtigkeit darstellen. Besonders im Fokus standen die Möglichkeiten des frühkindlichen Bereiches. Prof. Maaz betonte, dass schulische Defizite in den neunten Klassen noch teilweise auf verpasste Bildungschancen im frühkindlichen Alter zurückzuführen sind. Dass allerdings Kindertagesstätten keine Vorschulen sind und somit nicht zu stark verschult werden sollten, darüber waren sich die Teilnehmenden einig. Allerdings seien die Bildungsinhalte in den Kitas immer noch sehr beliebig. Fundierte Bildungspläne für den vorschulischen Bereich bedürften größerer Verbindlichkeit.

 

Der „sekundäre Herkunftseffekt“

Als sekundären Herkunftseffekt werden Entscheidungstendenzen von Eltern bezeichnet, die sich stärker auf den sozialen Hintergrund der Eltern zurückführen lassen, als auf die schulischen Leistungen der Kinder. So entscheiden sich „bildungsferne“ Eltern öfter gegen weiterführende Bildungsgänge für ihre Kinder, als Eltern, die selbst einen höheren Bildungsabschluss besitzen. Hier spielen Kosten- und Nutzenkalkulationen bei der Wahl von Bildungsübergängen, aber auch Sozialisationserfahrungen der Eltern eine entscheidende Rolle.

 

Mit entsprechenden Aufklärungsangeboten für Eltern in unterschiedlicher Form könnte an dieser Stellschraube angesetzt werden – auch auf kommunaler Ebene. Denn die gewählte Schulform hat eine entscheidende Folgewirkung auf die jungen Menschen. Sie bietet eine eigene Entwicklungswelt, die über das Erlernen von kognitiven Fähigkeiten hinausgeht. Dabei sei „Hauptschule nicht gleich Hauptschule“, betonte Prof. Maaz. Es gäbe eine große Variabilität innerhalb der einzelnen Schulformen: Nicht jede Hauptschule muss zwangsläufig eine hemmende Lernumwelt mit sich bringen. Allerdings sei zu beobachten, dass dies mehrheitlich noch der Fall ist. Förderlich auf die Lernumwelt wirke sich besonders eine gymnasiale Oberstufe an weiterführenden Schulen aus.

 

Der Ansatz des DKBM im Landkreis Darmstadt-Dieburg

Ein entscheidender Hebel auf kommunaler Ebene scheint die zielgerichteten Ressourcenverteilung zu sein. „Gefragt sei nicht das Gießkannenprinzip, sondern der Feinjustierung“, so der Experte. Eine bedarfsgerechte Ressourcenzuweisung kann der Schlüssel sein, um Bildungseinrichtungen in besonders schwierigen Lagen verstärkt zu unterstützen.

 

Diesen Ansatz verfolgt der Landkreis Darmstadt-Dieburg, dessen Vertreterin Anja Simon beim Spitzengespräch systematisch aufzeigte, wie das Thema Bildungsgerechtigkeit durch das Datenbasierte Kommunale Bildungsmanagement gezielt zum Leitthema in der kommunalen Politik wurde. Der vorgestellte Faktencheck „Bildung und Chancengleichheit“ aus dem Jahr 2019 bildet die Situation im Landkreis ab. Auf Basis dieser Erkenntnisse wurden Maßnahmen entwickelt, die die Ungleichheiten im Landkreis reduzieren sollen.

 

Aus den unterschiedlichen Diskussionsbeiträgen im Spitzengespräch ging hervor, dass Bildungsbarrieren ein komplexes Phänomen sind, deren Ursprünge innerhalb und außerhalb des Bildungssystems liegen. Handlungsoptionen auf kommunaler Ebene sind vorhanden, sie erfordern allerdings auch große Kraftanstrengungen in der Umsetzung.

 

Lösungsansätze

Gesellschaftlich wird das Thema Bildungsgleichheit in Folge der Corona-Pandemie weiter an Brisanz gewinnen. Es ist davon auszugehen, dass die Krise Bildungsungleichheit weiter verstärken wird, da die Auswirkungen der Krise auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich ausfallen. Die FES-Kommission befürchtet, dass sich die Verbindung von Familienhintergrund und Bildungserfolg „verfestigen und verstärken“ wird. Die sozial benachteiligten Kinder und Jugendliche betrifft es besonders, wenn schulische Lern- und Erziehungsprozesse wegfallen und durch die Familien nicht aufgefangen werden können. Aus diesem Grund sind diese Gruppen auf die Unterstützungsangebote von Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften in besonderem Maße angewiesen. Wenn diese wegfallen, können Lern- und Entwicklungsfortschritte stagnieren und gleichzeitig problematisches Medien-, Freizeit- und Essverhalten sowie Konflikte in Familien zunehmen. Für Schüler*innen mit relevanten Lernrückständen und Förderbedarf schlägt die FES-Kommission verbindliche zusätzliche Lernzeiten vor. Benachteiligten Schüler*innen sollten schnellstmöglich digitale Endgeräte zur Verfügung gestellt werden.

 

Für die längerfristige Weiterentwicklung von Konzepten für den Distanzunterricht sei eine verbindliche Kommunikation nötig: Wenn der Präsenzunterricht vorerst nicht möglich sei, sollten Politier*innen dies auch deutlich benennen, damit sich alle Beteiligten auf eine längere Zeit des Wechsel- und Distanzunterrichts einstellen könnten. In diesem Falle rät die Kommission auch dazu, nur den im Unterricht behandelten Stoff in Prüfungen zu berücksichtigen, auf Sitzenbleiben und Abschlussprüfungen in Haupt- und Realschulen sollte verzichtet werden, um Druck von den Schüler*innen zu nehmen.

 

Von der umfassend gedachten Digitalisierung bis hin zur Reform der Lehrerfortbildung stellt die FES-Kommission auch Forderungen für eine zukünftige Strategie zum Abbau von Bildungsungleichheiten auf. Über die Pandemie hinaus  kommt insbesondere den Ganztagsschulen und den non-formalen Bildungsangeboten in den Kommunen eine besondere Bedeutung zu. Dazu zählen z.B. Angebote der kulturellen Bildung, des Sports, der Jugendarbeit oder der Familienbildung.

 

Damit diese Bildungsangebote auch so gestaltet werden, dass sie den vorhandenen Chancenungleichheiten entgegenwirken, braucht es Strategien und Abstimmungen zwischen vielen Bildungsakteuren und den (politischen) Ebenen. Die Transferagentur Brandenburg wird das Thema auch über die Coronakrise hinaus im Fokus behalten.

 

 

 

Prof. Dr. Kai Maaz beim Kommunalen Spitzengespräch

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